Autor: Walter Steiger, Steuerexperte, pensionierter Teamchef der Abteilung externe Prüfung MWST, Spezialist für Gemeinwesen.
1. Mehrwertsteuerverordnung vom 22. Juni 1994
Nach der überraschenden Zustimmung des Souveräns am 28. November 1993 zur Neuen Finanzordnung wurde die Verordnung vom Bundesrat in Rekordzeit am 1. Januar 1995 in Kraft gesetzt. Sie sah, neben dem Normalsatz von 6,5%, einen reduzierten Satz von 2% auf Güter des täglichen Bedarfs vor. Rekordzeit nicht zuletzt deshalb, weil keine Steueranrechnung der auf Betriebsmitteln lastenden Warenumsatzsteuer – der sogenannten „tax occulte“ – vorgesehen war, um so einen möglichen Investitionsstau zu vermeiden, zumindest aber möglichst gering zu halten.
Bei Vorlage des ersten Entwurfs der Mehrwertsteuerverordnung wurden innerhalb der Verwaltung umgehend Arbeitsgruppen gebildet, die sich intensiv mit verschiedenen branchenspezifischen Gegebenheiten befassten, um Anfragen seitens der künftigen steuerpflichtigen Personen frühzeitig zu erkennen und beantworten zu können. Nicht zuletzt auch, um noch allfällige Ergänzungen im Entwurf der Mehrwertsteuerverordnung dem Bundesrat zu unterbreiten.
2. Auftrag zur Situationsanalyse bei der öffentlichen Hand
Eine Branche bzw. ein spezielles Segment von steuerpflichtigen Personen bildete die öffentliche Hand. Diese war bisher meistens nicht mit der Situation konfrontiert, selber steuerpflichtige Person zu sein. Als auswärts wohnhafter Steuerexperte wurde ich beauftragt, die verschiedenen Fragen betreffend die Steuerpflicht bei der öffentlichen Hand – Gemeinden, Städten, Bund – zu eruieren. Man ging davon aus, dass sich in diesem Bereich die Fragen in Grenzen hielten und ich nicht allzu lange von der Revisionstätigkeit absorbiert sei. Die Realität sah letztendlich ganz anders aus. Dazu mehr etwas später.
Die Steuerpflicht von Bund, Kantonen und Gemeinden sowie der übrigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts regelt Absatz 3 von Artikel 17 der Mehrwertsteuerverordnung. Festgehalten ist speziell, dass sie für Leistungen, die sie in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbringen, nicht steuerpflichtig sind und auch, dass Gemeinwesen, ihre Dienststellen und Zweckverbände von der Steuerpflicht ausgenommen sind, soweit sie ausschliesslich Leistungen untereinander erbringen.
So habe ich in einem ersten Schritt verschiedene Jahresrechnungen von Gemeinden und Städten durchgesehen und kam schnell zur Ansicht, dass die öffentliche Hand eine breite Palette von Tätigkeiten ausführt, welche zur möglichen Steuerpflicht führen könnte.
Mit verschiedenen Gemeinwesen nahm ich umgehend Kontakt auf, um vor Ort die Situation aufzuarbeiten. Ich habe offene Türen aufgestossen, da sich viele Finanzfachleute auch bereits Gedanken über eine allfällige Registrierung bei der MWST machten. An das Treffen mit der grössten Stadt der Schweiz kann ich mich noch sehr gut erinnern. Vereinbart habe ich dieses mit dem Direktor der Finanzabteilung, empfangen wurde ich nicht nur von ihm, sondern von gut weiteren 20 Personen aus verschiedenen Bereichen (Dienststellen). Alle wollten wissen, ob ihre Leistungen der Steuer unterliegen, und wie sie in dieser kurzen Zeitspanne die Mehrwertsteuer bewältigen können. Weitere Fragen betrafen die Ausweisung der Steuer auf den Rechnungen, den Steuersatz sowie den Vorsteuerabzug. Viele Fragen konnte ich beantworten, oftmals aber waren weitere Abklärungen notwendig. Ähnliche Verhältnisse traf ich bei weiteren Vorsprachen und verschiedenen Weiterbildungsveranstaltungen an.
Die komplexe Thematik erforderte zusätzliche personelle Ressourcen, auch weil der zeitliche Druck enorm gross war. Schliesslich mussten und wollten die betroffenen Personen bei der Inkraftsetzung der MWST gerüstet sein. So konnte meine „Einmann-Arbeitsgruppe“ verstärkt werden. Ich hatte das Glück, dass wir innerhalb dieses Teams gut harmonierten, menschlich zusammen passten und alle am gleichen Strick zogen. Eine neue und sehr schöne, nachhaltige Erfahrung. Auch die Zusammenarbeit mit der Abteilung Rechtsdienst war sehr wichtig und bereichernd.
Die Arbeitsgruppe behandelte die schriftlichen Anfragen sowie die Probleme, die sich an den Meetings mit Gemeinwesen herausstellten. Die definitive Beurteilung fand letztendlich in der Arbeitsgruppe der Hauptabteilung. Zudem wurden solche Einzelfragen in der Broschüre Gemeinwesen unter Ziffer 12 „Antworten zu den häufigsten Fragen im Gemeinwesen“ integriert. Diese Broschüre wurde rund zwei Monate nach der Veröffentlichung der Verordnung über die Mehrwertsteuer (MWSTV) als „provisorische“ Broschüre „Die Mehrwertsteuer im Gemeinwesen“ veröffentlicht. Die Ziffer 12 wurde laufend ergänzt und so immer umfangreicher. Übrigens, auch in der aktuellen MBI 19 Gemeinwesen findet man im Teil D nach wie vor „Antworten zu häufigen Fragen“.
Eine der zentralen Frage bildete die Umsetzung des Vorsteuerabzugs. Die Erfahrungen aus der Tätigkeit als Revisor bei der Wohngemeinde waren da hilfreich. Die spezielle Art der Buchführung bei Gemeinwesen war mir nicht fremd und so suchte ich schnell eine Lösung, das Steuersubjekt nicht unbedingt im Rechtssubjekt anzusiedeln, sondern bei den einzelnen Funktionen der Gemeinwesen und dies auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene.
Bei der Analyse der verschiedenen Tätigkeiten bestätigten sich meine Erfahrungen, dass Gemeinwesen schweizweit verschiedene Funktionen (abgebildet in Dienststellen) ausüben und jede Dienststelle in einem eigenen Buchungskreis abgebildet wird (quasi eine Profitcenter-Rechnung [Spartenrechung] hat). Viele dieser Dienststellen sind nur oder zumindest in grossen Teilen für das eigene Gemeinwesen tätig. Ich stellte fest, dass sie nebenbei auch der Steuer unterliegende Leistungen gegenüber Nichtgemeinwesen erbringen, was die Steuerpflicht auslösen kann, z.B. Werkhof, der hauptsächlich die eigenen Strassen unterhält, aber im gleichen Zug die privaten Strassen gegen Entgelt pflegt (z.B. Reinigung, Schneeräumung, kleinere Ausbesserungen usw.).
Andere Dienststellen erbringen praktisch ausschliesslich Leistungen gegen Entgelt an Dritte. Beispielsweise die Dienststellen Wasserversorgung, Abfallentsorgung, Abwasserentsorgung, aber auch die Dienststellen Schwimmbad, Kunsteisbahn usw. Da die Entgelte aus diesen Leistungen der Steuer unterliegen, löst dies auch die Steuerpflicht aus, sofern die massgebenden Umsätze überschritten werden.
In Bezug auf die Finanzierung der Leistungen gibt es zwei Arten von Dienststellen. Nämlich die spezialfinanzierten Dienststellen, welche die Kosten vollumfänglich mit Entgelten aus diesen erbrachten Leistungen (nach Verursacherprinzip) decken, während dies bei den nicht spezialfinanzierten Dienststellen nicht der Fall ist.
Die Erkenntnisse der unterschiedlichen Finanzierung von Funktionen und der vielfach autonomen Selbständigkeit der Abteilungen bestärkten mich, die subjektive Steuerpflicht nach autonomer und nicht nach rechtlicher Selbständigkeit abzuklären, u.a. auch im Hinblick des Vorsteuerabzugs. Das heisst, die Registrierung jeder einzelnen Dienststelle als mehrwertsteuerpflichtige Person (Steuersubjekt) vorzunehmen, sofern sie den massgebenden Umsatz für die Steuerpflicht überschreitet. Gleichzeitig kann der berechtige Vorsteuerabzug aufgrund der eigenen Buchungskreise einfacher und zuverlässiger ermittelt werden, inkl. Einbezug allfälliger Vorsteuerkürzungen infolge interner Leistungen, Erhalt von Subventionen oder Beiträgen des eigenen Gemeinwesens. Mit anderen Worten, eine Variante für die Besteuerung von Gemeinwesen einzuführen, die praxisnah umsetzbar ist und zum richtigen Resultat führt.
Der Vorschlag, als Steuersubjekt die Dienststelle zu bezeichnen, kam nicht überall gut an. Einerseits gab es teilweise Widerstand bei den Gemeinwesen und deren Vertretern, aber auch innerhalb der Verwaltung. Es gab heftige Diskussionen, aber immer auf fachlicher Ebene. Letztendlich begrüsste die grosse Mehrheit diese Variante. Der Einsatz der Arbeitsgruppe war sehr gross, verbunden mit Nacht-, Samstags- und Sonntagsarbeit. Der im August 1994 veröffentlichen Broschüre Gemeinwesen folgte schon im Dezember 1994 die definitive Version.
Einige Gemeinwesen waren mit dem Steuersubjekt Dienststelle nach wie vor nicht so glücklich. Man nahm sich aber den „Unglücklichen“ an und konnte sie von den Vorteilen dieser Lösung überzeugen. Letztendlich kam es diesbezüglich zu keinem Gerichtsverfahren, da die Praxis durch die Gemeinwesen getragen wurde.
3. Bundesgesetz über die Mehrwertsteuer vom 2.9.1999
Im Rahmen der Erarbeitung des Mehrwertsteuergesetzes, beruhend auf die entsprechende parlamentarische Initiative „Dettling“, befasste sich die unter der Leitung von Professor Dr. Klaus Vallender von der Subkommission eingesetzte Expertengruppe unter anderem mit dem Steuersubjekt Gemeinwesen. Wie vorstehend bereits dargelegt, sieht die Branchenbroschüre nicht das Gemeinwesen (Rechtssubjekt) als Steuersubjekt vor, sondern die „autonomen Dienststellen“, was aus dem Verordnungstext nicht klar ersichtlich ist und auch aus dem Kommentar zur MWSTV nicht so klar hervorgeht. Grundsätzlich wollte man von der Dienststelle als Steuersubjekt wegkommen und durch das Rechtssubjekt Gemeinwesen ersetzen.
Auch ich wurde von der Expertengruppe deswegen vorgeladen. Ich musste mich aber nicht gross rechtfertigen, da die auch anwesenden betroffenen Verbände der Gemeinwesen sehr stark intervenierten, weil ihre Mitglieder die Dienststelle als Steuersubjekt beibehalten wollten! In der Zwischenzeit hatten sie die Vorteile klar erkannt. Die Gemeinwesen haben zwar die Möglichkeit, sich als Ganzes, als Einheit der Mehrwertsteuer zu unterstellen. Davon wurde aber meines Wissens nie Gebrauch gemacht. Massgebend war aber, dass die Dienststelle als Steuersubjekt beibehalten werden kann. In diesem Zusammenhang hat mir ein Vertreter der Gemeinwesen erklärt, dass ein Steuerrechtsprofessor mit der Erarbeitung eines Gutachtens bezüglich der Dienststelle als Steuersubjekt beauftragt wurde. Dieser kam zum Schluss, dass es wohl schon unüblich sei, die Dienststelle als Steuersubjekt zu bezeichnen. Er zeigte aber auf, dass die Wahl der Dienststelle als Steuersubjekt die klar vorteilhaftere Möglichkeit ist, da in der Regel nur wenige Dienststellen steuerpflichtig würden und die vielen übrigen Dienststellen, welche zwar ab und zu einige der Steuer unterliegende Leistungen erbringen, von der Abrechnung mit der Mehrwertsteuer nicht betroffen seien. Auch der Aufwand zur Ermittlung des Vorsteuerabzugs sei viel geringer, zudem viel präziser und somit das Fehlerrisiko kleiner. Zudem könne jede Dienststelle entscheiden, ob sie nach der effektiven Methode oder mittels Pauschalsteuersätzen abrechnen können. Der Vertreter des Gemeinwesens meinte denn auch, dass man dieses Geld hätte sparen können. Ich erwiderte ihm, dass sich die Ausgabe trotzdem gelohnt hätte, da ja eine unabhängige Drittperson auch zu dieser Einsicht kam und so die noch verbliebenen Skeptiker leichter zu überzeugen seien.
4. Subventionen und hoheitliche Tätigkeiten
Ein separater Blog (Teil 2) befasst sich mit Subventionen und hoheitlichen Tätigkeiten sowie einem persönlichen Rückblick des Autors.